Saskia Hagen
Physiotherapeutin und SportklettertrainerinTherapeutisches Klettern – häufig entsteht daraus ein neues Hobby
An einem der ersten warmen Tage des Jahres warte ich an einem fränkischen Waldrand im Halbschatten auf meinen nächsten Patienten.
Der vierzehnjährige Junge ist wegen einer ausgeprägten Haltungsschwäche im Rahmen einer kyphotischen Veränderungen seiner Brustwirbelsäule (Rundrücken) bei mir in Behandlung. Heute hat er seinen letzten Doppeltermin und diese Einheit der Behandlung ist für meine Patientinnen ein besonderer Termin. Denn ich gebe ihnen dann gerne die Möglichkeit, neben meinen Therapiezielen, die an der Kunstkletterwand erlernten Bewegungsabläufe jetzt am echten Fels anzuwenden.
Eingebunden mit dem Achterknoten steht mein junger Patient mit leuchtenden Augen und etwas Aufregung im Gesicht am Wandfuß. Denn er kann es kaum erwarten endlich zu erfahren, wie sich die Bewegung am Fels anfühlt.
Nach dem Klettern übergebe ich ihn ausgepowert, aber glücklich in die Hände seines Vaters. Mit im Gepäck sind eine individuell auf ihn angepasste Übungsauswahl, sowie ein erweiterter Bewegungserfahrungsschatz und vielleicht sogar ein neues Hobby.
Therapeutisches Klettern ist eine spezielle Form der Physiotherapie
Das therapeutische Klettern ist eine besondere Form der Physiotherapie, so dass sie von den privaten Krankenkassen im Rahmen einer ärztlichen Verordnung finanziert wird. Genau genommen wird hierfür eine physiotherapeutische Behandlung (KG) oder Krankengymnastik am Gerät (KG-Gerät) verordnet. Hierfür arbeite ich als Physiotherapeutin, Sportklettertrainerin (Trainer C Breitensport) und Gründerin von “außensein” mit Allgemein- und Kinderärzten, Orthopäden und Psychotherapeuten in der Region Erlangen-Nürnberg zusammen.
Therapeutisches Klettern als Physiotherapie ist eine besondere Form der Bewegungstherapie
Therapeutisches Klettern und Bouldern ist durch seine Komplexität der Bewegung wie geschaffen für eine ganzheitliche und ausgewogene Art der Kräftigung. Beim Klettern und Bouldern ist keine Bewegung wie die andere. Jeder Zug zwischen den verschiedenen Griffen erfordert eine andere Gelenkstellung und Ausgangsstellung der kontrahierenden Muskulatur. Und dies ermöglicht vielleicht die vielseitigste Variabilität von Einzelbewegungen. Für Gelenke mit eingeschränktem Bewegungsausmaß ist es damit eine komplexe Form der Kräftigung und Bewegungserweiterung.
Meine therapeutische Behandlung beinhaltet eine ausführliche Befunderhebung, welche ich in den ersten Therapieeinheiten erstelle. Daraufhin wird ein Therapieplan gemeinsam mit meinem Patienten abgestimmt. Denn dieser wird auf die individuellen Bedürfnisse angepasst und enthält therapeutische (Eigen-)Übungen sowie Übungen an der Kletterwand.
Die Übungen im therapeutischen Klettern setzen sich aus drei Schwerpunkten zusammen:
- Mobilisationsübungen zur Erweiterung der Beweglichkeit in Gelenken, hier vor allem Wirbelgelenken mit eingeschränktem Bewegungsausmaß
- Dehnübungen zur Verlängerung verkürzter Muskelgruppen sowie
- Übungen zur Kräftigung zu schwacher Muskulatur
Nur durch diese vorbereitenden Maßnahmen können wir dem Körper wieder ermöglichen sich in eine aufrechte Haltung zu begeben. Denn ansonsten würden dabei Ausweichmechanismen auf Grund von lange bestehenden Fehlhaltungen hervorgerufen werden.
Für wen eignet sich dieser Therapieansatz?
Haltungsschwäche und Rückenbeschwerden
Diese drei grundsätzlichen Übungsschwerpunkte sind neben der vorgestellten Behandlung auch auf Patient:innen übertragbar, die auf Grund von überwiegend sitzender Tätigkeit und daraus resultierender Haltungsschwäche Rückenbeschwerden verschiedenster Art haben.
Mit dieser Grundlage und ergänzenden Übungen kann dann durch therapeutisches Klettern ganzheitlich, gleichmäßig und angepasst Muskulatur für eine stabile und gesunde Haltung aufgebaut werden.
Besonders geeignet für Kinder und Jugendliche
Neben den physischen Therapieeffekten bringt das therapeutische Klettern eine extrem hohe spielerische Komponente mit. Damit ist es auch hervorragend für die Therapie mit Kindern und Jugendlichen geeignet. Denn durch schnelle Erfolgserlebnisse und Spaß an der Bewegung werden Patient:innen wie von selbst motiviert.
Neben den Therapiezielen aus der Physiotherapie unterstützt therapeutisches Klettern auch andere Behandlungsschwerpunkte
Auch in der Therapie von psychologischen Erkrankungsbilder kann therapeutisches Klettern unterstützen. Denn die Verbesserung der Eigenwahrnehmung sowie das fokussierte intensive Erleben von Bewegung und dem eigenen Körper spielen hier eine große Rolle. Dementsprechend ist therapeutisches Klettern mit unterschiedlichen Therapieziele und Behandlungsschwerpunkten für verschiedenste Erkrankungsbilder geeignet.
Zurück zur Physiotherapie-Stunde und dem Klettern mit meinem jungen Patienten
Mit meinem Patienten begab ich mich auf den schmalen Trampelpfad der sich zum Fels hochschlängelt. Am Felsfuß angekommen wartete auf ihn ein vorbereitetes therapeutisches Setting. Dieses bestand aus einem Bereich zur Durchführung ergänzender Aufwärm- und Mobilisationsübungen sowie eine bzw. mehrere abgesicherte Toprope-Klettertouren (durchgehende Absicherung durch ein oben am Fels eingehängtes Seil).
Die in den vergangenen Einheiten gemeinsam erarbeiteten Übungen machten wir nun als aufwärmende Mobilisation um den Körper auf die bevorstehende Belastung vorzubereiten.
Nach den ersten Klettermetern wurde seine Bewegung an der Wand deutlich flüssiger und der Junge begann sich vollkommen auf seinen Körper zu konzentrieren und fokussiert zu klettern. Nach einer ersten erfolgreich gemeisterten Klettertour ließ ich ihn in den nächsten Touren die von uns an der Kunstkletterwand erarbeiteten Übungen auch am Naturfels einbauen.
Auf meiner Seite gibt es hier noch mehr Informationen zum Thema Therapeutisches Klettern als Krankengymnastik.