Mathias Etteldorf
Physiotherapeut und Schmerzspezialist (MSc)Was bedeutet Disembodiment überhaupt?
Disembodiment – ein Begriff, der auf den ersten Blick eher philosophisch oder psychologisch klingt. In der Schmerztherapie ist er jedoch von großer Bedeutung.
Wörtlich übersetzt bedeutet er „Entkörperlichung“ – also ein Zustand, in dem Du Dich von Deinem eigenen Körper innerlich distanziert fühlst.
Vielleicht klingt das abstrakt, aber in der Praxis äußert es sich ganz konkret: Menschen berichten, dass sie ihre Beine nicht mehr richtig spüren, ein Arm sich „fremd“ anfühlt oder sie gar nicht mehr wahrnehmen können, wo bestimmte Körperteile sind.
Wenn dieses Schema gestört ist – zum Beispiel durch lang anhaltende Schmerzen – kann das Empfinden durcheinandergeraten. Der Körper fühlt sich nicht mehr „echt“ an, die Wahrnehmung verändert sich und Schmerzen können sich verstärken oder verfestigen.
Ein “beschädigtes” Körperteil kann in unserer Wahrnehmung vom Körper entkoppelt werden.
Dies mag auf den ersten Blick ein sinnvoller Mechanismus sein, um uns vor einer zu starken Fixierung auf die betroffene Körperregion zu schützen, kann aber langfristig zu einer Zunahme von Schmerzen und Missempfindungen im betroffenen Körperteil führen.
Disembodiment und persistierende Schmerzen – wie hängt das zusammen?
Persistierende Schmerzen sind also nicht nur eine Frage der Struktur – also von Muskeln, Gelenken oder Nerven –, sondern auch der Wahrnehmung. Menschen, die über längere Zeit Schmerzen haben, entwickeln oft Vermeidungsverhalten: bestimmte Bewegungen werden unterlassen, weil sie wehtun könnten.
Dadurch gerät die Verbindung zu diesen Körperbereichen aus dem Fokus. Und wenn Du einen Bereich Deines Körpers nicht mehr benutzt oder spürst, nimmt auch das Gehirn diesen Teil nicht mehr richtig wahr.
Das Resultat ist eine Entfremdung vom eigenen Körper – genau das, was man als Disembodiment bezeichnet.
Vielleicht kennst Du Aussagen wie: „Mein Rücken fühlt sich wie aus Watte an.“ Oder: „Ich habe das Gefühl, mein Bein gehört gar nicht zu mir.“
Solche Empfindungen sind nicht eingebildet – sie sind Ausdruck eines gestörten Körperschemas. Und sie treten bei lange anhaltenden Schmerzen erstaunlich häufig auf.
Viele Betroffene merken gar nicht, dass sie sich von ihrem Körper distanziert haben, bis sie gezielt darauf achten.
Wie erkennst Du bei Dir selbst Anzeichen von Disembodiment?
Wie kannst Du erkennen, ob auch Du von Disembodiment betroffen bist?
Hier einige typische Anzeichen:
- Du spürst bestimmte Körperregionen nur vage oder gar nicht.
- Du vermeidest unbewusst Berührungen oder Bewegungen bestimmter Bereiche.
- Vielleicht fühlst Du Dich manchmal „neben Dir“, vor allem in schmerzreichen Phasen.
- Oder Du bemerkst, dass Deine Schmerzen sich verändern, je nachdem, wie viel Aufmerksamkeit Du dem Körperteil gibst.
All das sind Hinweise darauf, dass Dein Körperschema aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Was kannst Du gegen Disembodiment tun?
Aber die gute Nachricht ist: Du kannst etwas dagegen tun.
Der Schlüssel liegt in der Wiederherstellung des Embodiments – also darin, Deinen Körper wieder bewusst zu erleben und Dich mit ihm zu verbinden.
Das hat nichts mit sportlicher Aktivität oder Leistungsdenken zu tun. Es geht vielmehr darum, über sanfte Wahrnehmung, regelmäßige Achtsamkeit und kleine Übungen Deine innere Verbindung zu Deinem Körper zu stärken.
Hilfreich sind:
- Achtsamkeitsübungen
- Body-Scan-Meditationen
- Sanfte Yoga-Sequenzen
- Bewegung mit Fokus auf das Spüren (z. B. Feldenkrais)
All das aktiviert das Körperschema und hilft Dir, Dich selbst wieder besser wahrzunehmen.
Und genau da setzt auch unser nächstes Kapitel an: mit einer praktischen Anleitung für den Body-Scan.
Praktische Übung: Body-Scan für Einsteiger
Eine der effektivsten Methoden dafür ist der Body-Scan – eine stille Achtsamkeitsübung, die Du jederzeit und überall durchführen kannst. Du brauchst keine Hilfsmittel, nur etwas Ruhe und Offenheit.
Der Body-Scan hilft Dir, einzelne Körperbereiche wieder bewusst wahrzunehmen – auch jene, die Du vielleicht lange ausgeblendet hast.
- Lege Dich auf den Rücken, möglichst bequem.
- Schließe die Augen und atme ein paar Mal tief durch.
- Dann richtest Du Deine Aufmerksamkeit ganz gezielt auf Deinen Körper – beginnend bei den Zehen des rechten Fußes.
- Spüre einfach, was da ist. Wärme, Kälte, Kribbeln, Taubheit – alles ist in Ordnung.
- Wandere langsam weiter über Fußsohle, Knöchel, Unterschenkel bis zum Oberschenkel.
- Dann das linke Bein.
- Danach der Beckenbereich, Bauch, Rücken, Brust, Schultern, Arme, Hände, Nacken und Kopf.
Du musst nichts verändern – nur spüren. Diese einfache Übung öffnet Türen zu Körperbereichen, die lange „abgeschaltet“ waren.
Je öfter Du sie machst, desto mehr wirst Du Dich wieder als Ganzes erleben.
Weitere Übungen zur Stärkung des Embodiments
Doch der Body-Scan ist nur eine Möglichkeit.
Auch sanfte Yoga-Übungen, die mit Achtsamkeit kombiniert werden, sind hilfreich. Du brauchst keine Vorerfahrung. Übungen wie die Kindhaltung oder Katze-Kuh laden Dich ein, Bewegungen ganz bewusst zu spüren.
Es geht nicht darum, besonders gelenkig zu sein, sondern aufmerksam. Jede Bewegung, die Du bewusst erlebst, bringt Dich näher zu Dir selbst.
Ebenso wirkungsvoll ist Achtsamkeit im Alltag. Du kannst beim Zähneputzen, Duschen oder Spazierengehen üben, Deine Sinne wieder einzuschalten.
Wie fühlt sich das Wasser auf Deiner Haut an?
Wie klingen Deine Schritte auf dem Boden?
Solche Momente sind kleine Brücken zurück zum Körper.
Und ja, manchmal hilft auch der Blick in den Spiegel – ganz wortwörtlich.
Viele Menschen mit Disembodiment haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrem äußeren Erscheinungsbild. Sich freundlich im Spiegel zu betrachten, bewusst in den Kontakt zu gehen, kann ein mächtiger Schritt sein.
FAQ – häufige Fragen zu Disembodiment und Schmerzen
Was ist der Unterschied zwischen Disembodiment und „normaler“ Schmerzvermeidung?
Disembodiment geht über Vermeidung hinaus. Es betrifft das ganze Körperschema – also wie Du Deinen Körper in Deinem inneren Bild erlebst.
Ist Disembodiment ein psychisches Problem?
Nein, es ist ein neuropsychologisches Phänomen, das oft durch Schmerzen ausgelöst oder verstärkt wird.
Kann man Disembodiment heilen?
Ja – zumindest stark verbessern. Mit regelmäßigem Training und Achtsamkeit kannst Du wieder ein ganzheitliches Körpergefühl aufbauen.
Wie lange dauert es, bis ich etwas merke?
Das ist individuell. Manche spüren nach wenigen Tagen erste Veränderungen, bei anderen dauert es länger.
Wichtig ist die Regelmäßigkeit.
Fazit – Dein Körper gehört zu Dir. Immer.
Disembodiment ist kein abstraktes Konzept, sondern ein reales Erlebnis vieler Menschen mit chronischen Schmerzen.
Das Gefühl, vom eigenen Körper getrennt zu sein, ist belastend – aber auch ein Hinweis darauf, dass Dein System Schutzmechanismen aktiviert hat, die über einen kurzen Zeitraum hilfreich sein können, langfristig gesehen aber zu Problemen führen können wie z.B. einer verstärkten Schmerzwahrnehmung oder Missempfindungen in der betroffenen Körperregion.
Mit gezielten Übungen kannst Du beginnen, diese Trennung zu überwinden.
Der Weg zurück zu einem vollständigen Körpererleben ist nicht immer leicht – aber er lohnt sich.
Denn am Ende geht es nicht nur darum, Schmerzen zu lindern, sondern Dich selbst wieder zu spüren.
Was kannst Du jetzt tun?
Wenn Du Dich in den beschriebenen Erfahrungen wiedererkennst oder jemandem helfen möchtest, der ähnliche Symptome zeigt – dann ist jetzt der richtige Moment, um mehr zu erfahren.
Hier findest Du weitere Informationen, praktische Tipps und Angebote zur Unterstützung:







